„Merket auf, alle, die in dieser Zeit leben“ (Psalm 49, 2)

Symphonische Kantate für Sopran, Chöre, Großes Orchester und Kirchenglocken

2014-2017

 

ist ein Werk des Aalener Komponisten Edgar Mann. Es entstand im Auftrag der evangelischen Kirchengemeinde Aalen zum Anlass des 500. Reformationsjubiläums. Zugleich feiert die evangelische Kirchengemeinde Aalen in diesem Jahr 250 Jahre Kirchenbau.

 

Die siebenteilige Komposition in vier Sprachen entstand in einem fast dreijährigen Schaffensprozess. Die musikalischen Anknüpfungspunkte erstrecken sich vom 4. über das 14. und 16. bis ins 21. Jahrhundert.

 

Edgar Mann, der seit vielen Jahren wieder in seinem Elternhaus in direkter Nachbarschaft zur Aalener Stadtkirche lebt, wurde wie seine Mutter im katholischen Glauben erzogen, sein Vater war Mitglied der evangelischen Kirchengemeinde Aalen.

Seit seiner Kindheit begleitet den Komponisten das Glockenläuten der Stadtkirche - naheliegend also, dass Mann in seinem Werk für Sopran, Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchor, großes Orchester und Orgel gleich zu Beginn auch Kirchenglocken klingen lässt.

 

Der erste Teil, „Sola Fide“, ist eine Ouverture, die vorwegnimmt, was Mann in später folgenden Teilen erneut aufgreift. Der hier vertonte Text entstammt dem Brief des Paulus an die Römer Kapitel 3, Vers 28. Edgar Mann entscheidet sich hier für die griechische Sprache, da Luther für die Übersetzung der Bibel ins Deutsche neben der lateinischen auch die griechische Bibel hinzuzog. Dieser Satz stellt den Ausgangspunkt einer von Luthers, nämlich dem „sola fide“ (Nur durch den Glauben) dar.

 

Die Choräle (Teile 2, 4 und 6) „Nun freut euch lieben Christen g´mein“ (Teil 2) und „Vater unser im Himmelreich“ (Teil 6) greifen von Luther stammende Melodien samt Textdichtung aus den Jahren 1523 bzw. 1539 auf. Sie würdigen Martin Luther als Komponisten und Dichter und zeigen auf, in welchem Sinne Mann sein Werk in dessen Gesamtheit verstanden wissen möchte: Einerseits repräsentiert „Merket auf, alle, die in dieser Zeit leben“ die Schaffenskraft des gedanklich noch im Mittelalter verhafteten Kirchenmannes Luther, andererseits spiegeln die sieben Teile dessen geistigen Hintergrund wider: die deutsche und italienische Renaissance an der Schwelle zur Neuzeit.

Der Text des dritten Chorals „Es ist das Heil uns kommen her“ (Teil 4) gibt inhaltlich die Kernaussage des „sola fide“ Luthers wider und stammt von Paul Speratus aus dem Jahr 1523, einem in Rötlen bei Ellwangen lebenden und wirkenden Prediger, Reformator und Dichter.

Die Choralmelodien hat Edgar Mann in seinen Bearbeitungen jeweils als solche erkennbar beibehalten, allerdings variiert er deren Tempi und Rhythmik. Sie greifen kompositorische Satztechniken auf, die es im deutschen Kirchenlied schon zu Zeiten Luthers gab. Die homophonen und polyphonen Strukturen sowie der Cantus firmus-Satz werden von Mann harmonisch geweitet und durch seine Instrumentation neu gefasst.

 

Das „Magnificat“ (Teil 3) ist ein Lobgesang Marias in lateinischer Sprache aus dem Lukasevangelium (Kapitel 1, Vers 46-55). Musikalisch knüpft dieser Teil an die Stilistik Giovanni Perluigi da Palestrinas (1525-1594) an, eines Komponisten, mit dessen Werk sich Edgar Mann in seiner Studienzeit intensiv auseinandersetzte. Der Musik liegt der zweite Magnificatton zugrunde, eine der römischen Psalmformeln, die um das Jahr 1000 zum ersten Mal methodisch zusammengefasst wurden, deren Entstehung aber vermutlich bereits auf das 4. Jahrhundert zurückgehen. Im Verlauf des Stückes emanzipieren sich Melodik, Harmonik, Rhythmik und Instrumentierung allerdings von den Kompositionsweisen der italienischen Renaissance und fügen sich schließlich in eine Edgar Manns eigene Klangsprache ein.

 

Der fünfte Teil, „Tehillim“, beinhaltet eine Auswahl der Psalmen der Söhne Korach (42-49) in hebräischer Sprache. Die Psalmen sind eine Sammlung von Liedern, deren genuine Musizierweise jedoch nicht überliefert ist. Edgar Mann verzichtet hier bewusst auf musikalische Anknüpfungspunkte vergangener Epochen und vertont die Texte aus vorchristlicher Zeit in einer eigenen musikalischen Stilistik.

 

Im siebten und letzten Teil erklingen der Pfingsthymnus „Veni Creator Spritius“ (Rhabanus Maurus, 9. Jh.) sowie die Pfingstsequenz „Veni Sanctus Spiritus“ (Stephen Langton um 1200), deren Verse aus sieben Silben bestehen. Hier schlägt Edgar Mann den Bogen zu einer dem Werk zugrundeliegenden und jenes gleichsam durchwirkenden Symbolik der Zahl Sieben, einer in der Kirchengeschichte heiligen Zahl. Nicht nur die sieben Teile des Gesamtwerks sind Ausdruck dieses Symbols; vielmehr findet es sich musikalisch in mannigfaltiger Ausdrucksform wieder. Beispielsweise ist die Harmonik des Gesamtwerks bestimmt durch eine Folge von sieben Akkorden. Darüber hinaus lässt Mann die Sing- und Instrumentalstimmen mancherorts über sieben Quinten einsetzen; auch der Schlussklang des „Tehillim“ besteht aus sieben geschichteten Quinten. Weiterhin findet sich das Motiv in den sieben Singstimmen sowie in den Glockenschlägen wieder, die im ersten und letzten Teil alle sieben Viertel ertönen.

 

Bei der Auswahl der Passagen der Pfingsthymnen sowie des Magnificats und der Choräle nebst deren Deutung im theologischen Sinne erhielt Edgar Mann Unterstützung von Dekan Dr. Pius Angstenberger und Kirchenmusikdirektor Thomas Haller. Ein besonderer Dank des Komponisten gilt Pfarrer Dr. Michael Lichtenstein für die Erarbeitung und Übersetzung der hebräischen Originaltexte und deren Transliteration sowie Frau Sonja L. Zink für die wertvolle Hilfestellung bei der Aussprache und Rhythmisierung der hebräischen Texte.

 

Text: Charlotte Kubiak (Oktober 2017)

 

 

Vor den Pforten der Unterwelt errette mein Leben, o Herr (Jesaja, Kap. 38)

für Flöte, Klarinette, Violine, Viola, Violoncello, Kontrabass und Schlagwerk

2005

Uraufführung im Paulusgemeindehaus in Heidenheim am 25. März 2006

 

„Vor den Pforten der Unterwelt errette mein Leben, o Herr (Jesaja, Kap. 38)“ von Edgar Mann war ein Auftragswerk der Gesellschaft für Neue Musik Heidenheim zu Ehren des Heidenheimer Komponisten Helmut Bornefeld der 2006 seinen 100-sten Geburtstag gefeiert hätte.

 

Bei der Beschäftigung mit der Musik Helmut Bornefelds entdeckte Edgar Mann, dass es von Bornefeld sowie von Mann selbst ein Werk mit dem Titel Psalm der Nacht gibt. Dieser Titel ist der Schlusszeile des Gedichts Welt, frage nicht die Todentrissenen von Nelly Sachs entnommen. Im Jahr 1965 schuf Helmut Bornefeld einen Zyklus von mehreren Gedichten dieser Lyrikerin für Sopran und Orgel. 30 Jahre später komponierte Edgar Mann ein Stück mit demselben Titel für Violine solo, ohne den Liederzyklus von Bornefeld zu kennen. Dieser Zufall brachte Edgar Mann auf die Idee, das erste Stück aus dem Zyklus von Bornefeld und sein Stück für Violine in einem neuen Werk mit dem Titel Vor den Pforten der Unterwelt errette mein Leben, o Herr zusammenzuführen.

 

Diese neue Komposition von Edgar Mann beginnt in den tiefen Streichern mit der Melodie aus seinem Psalm der Nacht. Nach wenigen Takten spielt die Klarinette ein kurzes schnelles Motiv. Dieses sogenannte Schofarmotiv stammt aus dem ersten Stück von Bornefelds Psalm der Nacht. Das Schofar ist ein altes Instrument aus dem Vorderen Orient. Es ist aus dem Horn eines Widders gefertigt und hat seinen Ursprung in der jüdischen Religion. Dieses Schofarmotiv wird verlängert und variiert und vermischt sich mit Manns eigenen Figuren. Die so komponierte Musik gerät allmählich in den Sog eines polymetrisch angelegten Crescendos und endet mit einem Zitat aus der Choralkantate Helmut Bornefelds O gläubig Herz, gebendei.“

 

 

Beiseit

Gedicht: Robert Walser

für Mezzosopran, Flöte, Oboe, Klarinette/Bassklarinette, Fagott, Streichquartett, Klavier

1994, Neufassung 2013

 

Edgar Manns Vertonung des Gedichts „Beiseit“ von Robert Walser stammt aus Jahr 1994 und ist 2013 überarbeitet worden.

 

Der Gedichtanfang „Ich mache meinen Gang“ ist programmatisch für die gesamte Vertonung des Gedichts. Diese Textzeile gibt den Instrumenten eine gleichmäßige rhythmische Bewegung vor und wird über das ganze Stück fortgeführt. Zu dieser gleichmäßigen rhythmischen Ebene kommt eine klangliche hinzu, über denen sich die Singstimme frei entfaltet.

 

Die Sängerin intoniert gleichsam singend und summend den kurzen Text: „Ich mache meinen Gang; der führt ein Stückchen weit und heim; dann ohne Klang und Wort bin ich beiseit“.

 

Text: Charlotte Kubiak